Mein Bildungsurlaub Rio de Janeiro
Seit ich denken kann, reise ich kreuz und quer durch die Welt. Ich bin kein ‚Digital Nomad‘, ich habe einen festen Job und reise so viel, wie meine Urlaubstage hergeben. Und dank Bildungsurlaub sind dies pro Jahr noch 5 Tage mehr!
Wo ich als Deutsche auf der Welt auch hinkomme, gibt es stets drei Dinge, auf die ich anerkennend – ja, manchmal fast bewundernd – angesprochen werde: Fußball, Autos und Bier.
Ich bin eine Enttäuschung für die Menschen: Ich kenne eine Handvoll deutscher Fußballer beim Namen; von denen die meisten wahrscheinlich nicht mehr aktiv sind. Ich benutze rund um den Globus ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel, und Bier trinke ich allerhöchstens mal auf Reisen und dann gestreckt mit Limonade. Da bin ich also eine ganz schlechte Kulturbotschafterin.
Bildungsurlaub
Wovon ich schwärme, ist eine bundesdeutsche Errungenschaft, von der nicht einmal alle Bundesdeutschen wissen und mit der ich im Ausland für ungläubiges – ja, manchmal fast bewunderndes – Staunen sorge: Bildungsurlaub!
Offensichtlich einmalig in der Welt, ermöglicht diese fantastische Erfindung Arbeitnehmern, eine Woche im Jahr – oder wahlweise alle zwei Jahre zwei Wochen – ihren Interessen nachzugehen und etwas zu lernen. Einfach so. Den Kurs – der für Bildungsurlaub anerkannt sein und bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss – hat man zwar selbst zu bezahlen, während der Abwesenheit bekommt man aber weiterhin sein Gehalt; was für ein unglaublicher Luxus!
Vergesst Fußball, Autos und Bier – das, was Deutschland im internationalen Vergleich einzigartig macht, ist Bildungsurlaub!
Individualunterricht
Individualunterricht hat einige Nachteile: Es sind keine Mitschüler da, mit denen man etwas unternehmen könnte, es gibt kein Kulturprogramm, an dem man gemeinsam teilnimmt – und vor allem ist man während des Unterrichts pausen- und ausnahmslos gefordert.
Nach manchen Unterrichtsblöcken hatte ich das Gefühl, mir würde der Kopf platzen!
Aber da sind wir auch schon bei den Vorteilen: man ist während des Unterrichts pausen- und ausnahmslos gefordert. Das ist zwar wirklich sehr anstrengend, aber man lernt unglaublich viel in unglaublich kurzer Zeit. Als wenn die Sprachkenntnisse durch einen Trichter direkt ins Gehirn fließen würden.
Ein anderer Vorteil ist die verkürzte Stundenzahl: Ich hatte ja schon eingangs angedeutet, die Bildungsmaßnahme müsse bestimmte Kriterien erfüllen. Abgesehen davon, dass die Institution anerkannt sein muss, ist man auch zu 30 Unterrichtsstunden pro Woche verpflichtet (das sind bei Sprachschulen Intensivkurse, die, insbesondere wenn sie als Bildungsurlaub anerkannt sind, verhältnismäßig teuer sind, das sei hier nur erwähnt. Dass ich statt in Istanbul in Izmir gelernt habe, war dem Preis geschuldet. Und es wird verblüffen, dass Portugiesisch in Portugal wesentlich teurer kommt als in Brasilien – ein Grund, der meine Entscheidung für Rio durchaus auch beeinflusst hat). Wenn man aber Individualunterricht hat, wird diese Zeit halbiert – bei gleichbleibendem Preis, was im Verhältnis völlig in Ordnung ist.
Ich hatte also nur 15 Stunden Unterricht und darum wesentlich mehr Zeit, um Rio de Janeiro kennenzulernen. Was ja auch ein wichtiger, bildender Teil des Aufenthaltes ist.
Portugiesisch lernen am Strand in Rio
Rio de Janeiro ist eine harte Stadt. Sicherlich auch in gewissen Gebieten eine gefährliche Stadt.
Ich hatte vor Anreise ein bisschen Angst. Angst davor, überfallen zu werden, mehr aber Angst davor, mich eingeschränkt und eingesperrt zu fühlen. Beides ist nicht passiert. Ich war mit meinen Sachen etwas umsichtiger, ohne mich verrückt zu machen.
Am ersten Tag sagte mir Marcy, ich solle meine Goldkette abnehmen – es ist ein unscheinbares, dünnes Kettchen mit einem Kreuzanhänger dran – und sie erst wieder anlegen, wenn ich Brasilien verlasse. Ich dachte kurz, sie würde vielleicht etwas übertreiben, habe die Kette aber abgenommen und verstaut. Ich habe dann mal darauf geachtet, und es scheint zu stimmen: Man sieht ziemlich wenige Frauen mit Halsketten. Ohrringe, Ringe, Armbänder – aber keine Halsketten.
Ohne Halskette – und ohne mein Handy – ging ich an den Strand, außer meinen Badesachen hatte ich stets nur ein paar Reais und meinen kleinen Fotoapparat mit. Dessen Verlust hätte mich weniger beunruhigt als der Diebstahl meines Handys mit all den Daten. Es kam aber gar nicht zum Verlust. Wenn ich ins Wasser ging, habe ich einfach andere Strandbesucher gebeten, ein Auge auf meinen Kram zu werfen – die Aufgabe fiel ihnen leicht, niemand interessierte sich für mein Zeug.
Man sieht viel Armut und Verelendung in Rio. Das machte mich eher traurig als ängstlich. Es gibt sehr viele Obdachlose, die in einem anderen Zustand sind als die Obdachlosen in Europa. Insbesondere der Anblick von Frauen mit Kindern bricht einem das Herz. Ich hatte immer gedacht, die Armut würde in den Favelas sein. Inzwischen glaube ich, dass in den Favelas eher die untere Mittelschicht ist; die Armut hat kein Zuhause.
Apropos Favelas: ich habe keine….besucht? ….besichtigt? Zum einen sagte Marcy, es sei zu gefährlich – auch die befriedeten Favelas würden wieder unruhig werden. Zum anderen finde ich es absurd und weiß nicht, was ich in einer Favela sollte. Wie sie aussehen, sieht man zum Beispiel beim Vorbeifahren. Wie die Menschen leben….wahrscheinlich ziemlich einfach; das kann ich mir vorstellen, das müssen sie mir nicht zeigen. In anderen Ländern komme ich auch nicht auf die Idee, Armenviertel zu besichtigen – nicht in Berlin, nicht in Paris, nicht in London. Warum sollte ich’s in Rio tun? Weil’s noch ärmer ist? Weil’s pittoresker ist? Es gibt Touren in gepanzerten Fahrzeugen – das finde ich hochgradig dekadent und menschenverachtend.
Ich habe einige schöne Orte gesehen wie den Botanischen Garten, wie die Wandmalereien von Eduardo Kobra und die beiden angrenzenden Museen, das Museu do Amanha und das Museu do Rio de Janeiro, ich bin mit der Fähre nach Niteroi gefahren und habe von dort auf Rio zurückgegeblickt. Ich war bei Cristo und in Santa Teresa – man sollte sich besser erkundigen, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen dieser Stadtteil besucht werden kann, in dem sich die sehr sehenswerte Escadaria Selaron, die mit über 2000 Kacheln dekorierte Treppe, befindet.
Man lernt viel während des Bildungsurlaubs – über das Land, über sich…und nicht zuletzt die Sprache.
Fotos: Renata Green/byemyself.com
Titelbild: „Detail des Pentaptychons „Ethnicities“, das der bekannte brasilianische Muralist Eduardo Kobra anlässlich der Olympischen Spiele in der Avenida Rodrigues Alves angefertigt hatte.“